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Titel518

I can see clearly now  (Klaus Nilius)

Auf jemanden einzutreten, der schon am Boden liegt, ist keine Heldentat. Wo die »Stumpfheit des Geistes endemisch geworden« ist (Lichtenberg), da ist die Voraussetzung gegeben zum Tragen von Scheuklappen. Nur diese gewährleisten den Tunnelblick.

 

Um 8 Uhr am Sonntag, 4. März, twitterte SPD-Parteivorstandsmitglied Ralf Stegner seine tägliche Botschaft an »Euch da draußen im digitalen Orbit«: »Mein Musiktipp ist von Johnny Nash: ›I can see clearly now‹. Schönen Sonntag.«

 

Es wurde ein schöner Sonntag. Zumindest für das Gros der Parteiführung und jene 239.604 Mitglieder (66,02 Prozent), die mit Ja und damit für die Koalition mit der CDU gestimmt und nicht wie die 123.329 (33,98 Prozent) Nein-Sager den Weg der Partei ins Abseits gewählt hatten.

 

Es wurde dann 9.42 Uhr, bis SPD-Bundesschatzmeister Dietmar Nietan das Ergebnis bekanntgab. Ich weiß die Uhrzeit deshalb so genau, nicht nur weil ich vor dem Fernsehgerät saß, sondern weil der stern online die Verzögerung des Beginns der für 9 Uhr angesetzten Pressekonferenz um die genau gezählten 42 Minuten als »spätes Ja« der SPD verhohnepiepelte und aus diesem seltsamen Argument heraus die offizielle Verkündung des Votums »missglückt« nannte. Besonders erschwerend für die Zeitschrift, die ihre besten Jahre schon längst hinter sich hat und die selbst stets nach Indiskretionen giert: Plappertaschen aus der SPD hatten das zu erwartende Ergebnis durchsickern lassen, allerdings nicht gegenüber dem stern. Dann tritt man halt noch einmal auf die am Boden liegende Partei ein, wie schon in den letzten Wochen, bevor die alte Tante SPD sich vielleicht doch wieder aufrichtet. Vulgär ist halt immer nur das Benehmen anderer (Oscar Wilde).

 

Spottdrosseln sitzen überall im journalistischen Mainstream und in den Nischen, verbreiten ihre »schnarchende Gedanken in rauchenden Worten«, daherkommend wie der »Bürzel eines federlosen Pfaus« (Ambrose Bierce). Kein Gedanke dagegen wird verschwendet auf dieses gerade beendete Musterbeispiel innerparteilicher Demokratie: Über 460.000 Mitgliedern war die Chance geboten worden, über den Koalitionsvertrag abzustimmen, der ihnen komplett mit dem Parteiorgan vorwärts zugeschickt worden war. 78 Prozent von ihnen beteiligten sich. Zehntausende haben in den zurückliegenden Wochen »fair und sachlich diskutiert« (SPD-Parteivorstand). Ein Vorgang, der in der jüngeren deutschen Geschichte einmalig ist. Bei den CDU-CSU-FDP-Grünen-Linken dagegen herrscht in dieser Hinsicht Fehlanzeige, sofern ihre Mitgliedschaft überhaupt an die Zahl der Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer auf den SPD-Regionalkonferenzen herankommt.

 

Olaf Scholz, Lars Klingbeil und Andrea Nahles haben Recht, wenn sie sofort nach der Bekanntgabe des Votums in einem innerparteilichen Rundbrief erklären: »Bei uns wird nicht über Basisdemokratie geredet, wir leben sie.«

 

Wer den Koalitionsvertrag durchliest, wird vieles entdecken, was vielen etwas bringt. Wer den Koalitionsvertrag durchliest, wird vieles nicht finden, was er persönlich für wichtig hält, und manches, was ihn stört oder was er für falsch hält. Dass zum Beispiel die steinreichen Verleger, Verlegerinnen und Pressekonglomerate für die Dauer von fünf Jahren nur fünf statt bisher 15 Prozent des von ihnen allein zu tragenden Beitrags zur Rentenversicherung ihrer Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller in Minijobs berappen müssen, hat zwar sicherlich nichts mit politischer Prostitution zu tun, vielleicht aber mit den Einflüsterungen dieser starken Interessengruppe. Und mit ihr will es sich mit Sicherheit keine Partei im Bundestag verderben. (Dass die Koalitionäre diese Schenkung als »Sicherung der bundesweiten Versorgung mit Presseerzeugnissen für alle Haushalte« verbrämen, ist eine Musterleistung in Schönsprech.)

 

Deswegen und wegen vergleichbarer Einwände aber die Verhältnisse dieses Landes durchzurütteln, weiter zu lamentieren und damit als Partei weiter zu schrumpfen, den großen Bruch statt der großen Koalition zu riskieren, ab ins Abseits zu marschieren, mit wehenden Fahnen: Vor dieser Kinderkrankheit des »linken Radikalismus« haben 239.604 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ihre Partei und die Bundesrepublik Deutschland bewahrt.